Seitenwechsel

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Seitenwechsel ist ein häufiges und typisches Phänomen des Lobbyismus, auch Drehtür-Effekt (Revolving door) genannt: PolitikerInnen oder hochrangige MitarbeiterInnen aus Ministerien wechseln aus ihrem Amt oder Mandat zu Unternehmen oder Interessensverbänden und übernehmen dort Lobbytätigkeiten. Häufig werden sie in Bereichen tätig, für die sie zuvor in ihrer politischen Funktion auch zuständig waren. Sie wechseln quasi auf die andere Seite des Verhandlungstisches und sitzen nun ihrem Nachfolger gegenüber. Diese Wechsel erfolgen oft direkt nach Beendigung der politischen Funktion oder kurz darauf („fliegend“).

Die Problematik

LobbyControl hält fliegende Seitenwechsel aus folgenden Gründen für hoch problematisch:

  • Mit den kürzlich ausgeschiedenen politischen Entscheidungsträgern sichern sich Interessengruppen deren Insider-Wissen und ihre noch frischen Kontakte in Ministerien und/oder Parlament. So erhalten sie einen privilegierten Zugang zur Politik und können Entscheidungen leichter beeinflussen.
  • Dies kommt vor allem finanzstarken Akteuren zugute, die ehemaligen SpitzenpolitikerInnen attraktive Jobs anbieten können – dies sind in der Regel große Unternehmen oder Wirtschaftsverbände. Die bestehenden Machtstrukturen werden so verfestigt und verstärkt.
  • Die Aussicht auf lukrative Jobs nach dem Ende der Politiker-Karriere gibt Anreiz, politische Entscheidungen zu Gunsten möglicher späterer Arbeitgeber zu treffen - oder zumindest sie nicht gegen sich aufzubringen. So wird bei Entscheidungen der Seitenblick auf die späteren Jobchancen zu einem bedeutenden Faktor.

LobbyControl hat sich in der Studie "Fliegende Wechsel - die Drehtür kreist. Was macht die Ex-Regierung Schröder II heute?", November 2007 (pdf) intensiv mit dem Phänomen der fliegenden Wechsel auseinandergesetzt.

Beispiele für Seitenwechsel der letzten Jahre

  • Hildegard Müller - rechte Hand von Angela Merkel wird Energie-Cheflobbyistin mit direktem Draht ins Kanzleramt
  • Caio Koch-Weser - Zentrale Figur der deutschen Finanzlobby - Von der Regulierungsbehörde in den Vorstand der Deutschen Bank
  • Wolfgang Clement - Die Hartz-Gesetze als Entrittskarte in die Zeitarbeits-Lobby. Vom Wirtschaftsminister zum Aufsichtsrat von RWE
  • Gerald Hennenhöfer - Vom Atom-Aufseher zum Atom-Lobbyisten und zurück
  • Christian Weber - Lobbyist der Privaten Krankenkassen im Gesundheitsministerium

Forderung: Karenzzeit

LobbyControl tritt für eine dreijährige Karenzzeit – eine Abkühlphase – ein. Innerhalb dieser Zeit muss ein Wechsel in Lobbytätigkeiten generell, also nicht nur im Bereich der zuvor bearbeiteten Fachgebiete, verboten sein. Dabei darf dieses Verbot nicht durch den Verzicht auf Beamten- oder sonstiger Rentenbezüge zu umgehen sein. Die Abkühlphase sollte für die Kanzlerin, die Minister, Staatsminister, parlamentarische und beamtete Staatssekretäre sowie Abteilungsleiter gelten.

Es ist weder ausreichend, einen nicht bindenden Ehrenkodex zu verabschieden, noch die neuen Tätigkeiten lediglich zu melden und das Verbot auf Bereiche zu beschränken, die im früheren Zuständigkeitsbereich des ausscheidenden Politikers liegen.

Ein Ehrenkodex erfasst das Problem schon begrifflich nur schlecht, denn es geht nicht nur um individuelles Fehlverhalten oder „Ehre“, sondern um strukturellen Einfluss finanzstarker Interessengruppen oder Unternehmen. Zudem scheinen sich die betreffenden Politiker bei den bisherigen Wechseln auch nicht allzu sehr um ihre Ehre gesorgt zu haben, wenn man die öffentlichen Empörung betrachtet, die sie einfach ignoriert und ausgesessen haben. Eine Anzeigepflicht führt zwar möglicherweise zu größerer Transparenz, erlaubt aber im Kern die unveränderte Fortsetzung der bisherigen Praxis. Ein eng auf die früheren Tätigkeitsbereiche beschränktes Verbot würde das Ausmaß der Problematik verkennen. Denn es geht nicht nur um direkte Vorteilsgewährung während der politischen Amtszeit, die nach deren Ende mit einem lukrativen Job belohnt werden. Mindestens ebenso bedeutend ist der privilegierte Zugang zu Entscheidungsträgern und Insiderwissen, über die frisch ausge- schiedene Minister oder Staatssekretäre auch in Bereichen verfügen, in denen sie nicht unmittelbar tätig waren.

Daher kann nur eine verpflichtende und umfassende Regulierung die Verfestigung und Vertiefung der privilegierten Position von ökonomisch potenten Interessengruppen und Unternehmen bremsen. Nach drei Jahren dürften die aus fachlichen und geschäftlichen Gründen entwickelten persönlichen Kontakte deutlich abgeschwächt sein, weil Manager und Amtsträger sich in dieser Zeit anderen und neuen Personen zuwenden müssen.

Politische Debatte

Sowohl in Deutschland als auch auf europäischer Ebene wurde in den letzten Jahren über schärfere Regeln für Seitenwechsler gestritten. Das Thema ist auf der politischen Tagesordnung angekommen. Das zeigt sich z.B. an den Anträgen im Bundestag nach dem Seitenwechsel von Gerhard Schröder. Aber es gibt zugleich großen Widerstand und Beharrungskräfte in der (Partei)Politik. Wir zeichnen die Debatte hier genauer nach:

Besondere Formen

Neben dem Wechsel von Politikern in die Wirtschaft gibt es auch die umgekehrte Bewegung: Lobbyisten wechseln aus Unternehmen in wichtige Entscheidungspositionen in Ministerien. So wurde der Atom-Lobbyist Gerald Hennenhöfer 2009 oberster Atom-Aufseher. [1] Der stellvertretende Chef des Verbandes der Privaten Krankenkassen (PKV), Christian Weber, wurde 2010 Abteilungsleiter für Grundsatzfragen im Gesundheitsministerium.[2] Unter Rot-Grün wechselte 1999 Heribert Zitzelsberger, langjähriger Chef der Steuerabteilung des Chemie-Riesen Bayer AG, als Staatssekretär ins Finanzministerium. Er gilt als einer der Väter der rot-grünen Unternehmenssteuerreform, die mit der Senkung der Körperschaftsteuer und der Steuerbefreiung für Kapitalgesellschaften beim Verkauf von Beteiligungen Großunternehmen „das größte Geschenk aller Zeiten“ machte.[3] Der Bayer|Bayer AG wurden im Jahr 2001 250 Millionen Euro Körperschaftssteuer erstattet.[4]

Dass Seitenwechsel nicht nur Politiker betreffen, zeigt der Wechsel von Norbert Hansen: Als Vorsitzender der Bahn-Gewerkschaft Transnet verhandelte er im Namen der Belegschaft über Lohnerhöhungen und Entlassungen. 2008 wechselte er in den Bahn-Vorstand - als Personalchef.[5]

Bei einigen Politikern wie z.B. Friedrich Merz mischen sich zudem Nebentätigkeiten (während des politischen Amts) mit Seitenwechseln danach. Manchmal kann man sich fragen, ob dabei Lobbyisten in politische Ämter gewählt wurden oder Politiker nebenberuflich als Lobbyisten agieren.

Übersicht

Weiterführende Links

Einzelnachweise

  1. Den Bock zum Gärtner gemacht Frankfurter Rundschau vom 1. Dezember 2009
  2. PKV-Lobbyist soll Gesundheitsreform erarbeiten FAZ vom 11. Januar 2010
  3. Das größte Geschenk aller Zeiten Die Zeit vom 8. September 2005
  4. Kein Gewinn im Sinne des Steuerrechts Coordination gegen Bayer Gefahren 02/2002
  5. Bahn-Gewerkschafter werfen Überläufer Hansen Verrat vor Spiegel-Online vom 16.05.2008, abgerufen am 08.10.2010]

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