Seitenwechsel
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Seitenwechsel, auch Drehtür-Effekt (Revolving door) genannt, ist ein häufiges und typisches Phänomen des Lobbyismus. Politiker*innen oder hochrangige Mitarbeiter*innen aus Ministerien wechseln aus ihrem Amt oder Mandat zu Unternehmen oder Interessensverbänden und übernehmen dort Lobbytätigkeiten. Häufig werden sie in Bereichen tätig, für die sie zuvor in ihrer politischen Funktion auch zuständig waren. Sie wechseln gewissermaßen auf die andere Seite des Verhandlungstisches und sitzen nun ihrer Nachfolger*in gegenüber. Diese Wechsel erfolgen oft direkt nach Beendigung der politischen Funktion oder kurz darauf („fliegend“).
LobbyControl hat 2015 in seinem Lobbyreport[1] untersucht, ob und wenn ja wie die Große Koalition Lobbyismus reguliert hat. Im Bereich Seitenwechsel fällt die Bewertung gemischt aus: "Mit dem neuen Gesetz zur Einführung von Karenzzeiten wurde ein Durchbruch in Richtung wirksamer Lobbykontrolle erzielt. Aufgrund der zu weichen Regelung und der offenen Gesetzesanwendung bleibt jedoch großer Handlungsbedarf."
→ Überblick LobbyABC: Lobbyismus von A–Z
Inhaltsverzeichnis
Die Problematik
Seitenwechsel sind aus folgenden Gründen problematisch:
- Mit den kürzlich ausgeschiedenen politischen Entscheidungsträger*innen sichern sich Interessengruppen deren Insider-Wissen und ihre aktuellen Kontakte in Ministerien und/oder Parlament. So erhalten sie einen privilegierten Zugang zur Politik und können Entscheidungen leichter beeinflussen.
- Dies kommt vor allem finanzstarken Akteur*innen zugute, die ehemaligen Spitzenpolitiker*innen attraktive Jobs anbieten können – dies sind in der Regel große Unternehmen oder Wirtschaftsverbände. Die bestehenden Machtstrukturen werden so verfestigt und verstärkt.
- Die Aussicht auf lukrative Jobs nach dem Ende der Politiker-Karriere gibt Anreiz, politische Entscheidungen zu Gunsten möglicher späterer Arbeitgeber zu treffen - oder sie wenigstens nicht gegen sich aufzubringen. So wird bei Entscheidungen der Seitenblick auf die späteren Jobchancen zu einem bedeutenden Faktor.
Beispiele für Seitenwechsel der letzten Jahre
- Sigmar Gabriel] - Vom Bundesaußenminister zum Mitglied des Aufsichtsrats der Deutschen Bank, zum "Senior Advisor" beim Politikberatungsunternehmen Eurasia Group, zum Vorstandsvorsitzenden der Atlantik-Brücke und zum Mitglied der Trilateralen Kommission
- Dirk Niebel - Erst Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, dann Rüstungslobbyist für Rheinmetall
- Ronald Pofalla - Vom Chef des Bundeskanzleramtes zur Deutschen Bahn
- Eckart von Klaeden - Vom Staatsminister im Bundeskanzleramt zum Cheflobbyist der Daimler AG
- Daniel Bahr - Vom Gesundheitsminister zur Allianz Versicherung
- Steffen Kampeter - Vom Staatssekretär im Bundesfinanzministerium zum Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
→ Weitere Seitenwechsler gibt es hier in einer Übersichtstabelle.
Nachbesserungen am Karenzzeit-Gesetz
Mit dem 2015 beschlossenen Gesetz zur Einführung von Karenzzeiten wurde ein Durchbruch in Richtung wirksamer Lobbykontrolle erzielt. Aufgrund der zu weichen Regelung und der offenen Gesetzesanwendung bleibt jedoch großer Handlungsbedarf.
Zu großer Interpretationsspielraum
Das im Juli 2015 verabschiedete Karenzzeit-Gesetz sieht nur ein 12- bzw. 18-monatiges Verbot für Minister*innen und Staatssekretär*innen vor. Das eng auf die früheren Tätigkeitsbereiche beschränkte Verbot verkennt das Ausmaß der Problematik. Denn es geht nicht nur um Beeinflussung durch lukrative Jobangebote während der Amtszeit. Mindestens ebenso bedeutend ist der privilegierte Zugang zu Entscheidungsträger*innen und Insiderwissen, über die frisch ausgeschiedene Minister*innen oder Staatssekretär*innen auch in Bereichen verfügen, in denen sie nicht unmittelbar tätig waren. LobbyControl bemängelt daher, dass das Gesetz zu großen Interpretationsspielraum bei der Frage zulässt, ob Seitenwechsel in Lobbyjobs ohne inhaltliche Überschneidungen auch von der Karenzzeit erfasst werden. Der Wechsel in Lobbytätigkeiten sollte explizit untersagt werden.
Nur eine verpflichtende und umfassende Regulierung kann die Verfestigung und Vertiefung der privilegierten Position von ökonomisch potenten Interessengruppen und Unternehmen bremsen. Frühestens nach 3 Jahren dürften die aus fachlichen und geschäftlichen Gründen entwickelten persönlichen Kontakte ausreichend abgeschwächt sein, weil Manager und Amtsträger*innen sich in dieser Zeit anderen und neuen Personen zuwenden müssen.
Keine wirksamen Sanktionen
Lobbycontrol fordert außerdem, dass das Karenzzeit-Gesetz um wirksame Sanktionen ergänzt wird. Auch fehlt die Regel, dass neue Tätigkeiten erst nach einer Entscheidung über eine Karenzzeit begonnen werden dürfen.[2].
Schwache Vorschriften im Beamtenrecht
Die 2015 für Minister*innen sowie Parlamentarische Staatssekretär*innen eingeführte Karenzzeitregelung auf gesetzlicher Grundlage war ein wichtiger Schritt, um Interessenkonflikte beim Wechsel aus dem Amt in Tätigkeiten bei Verbänden und Unternehmen zu regulieren. Für politische Beamte fehlt eine entsprechende Regelung jedoch. Zwar sieht § 105 Bundesbeamtengesetz die Möglichkeit vor, die Aufnahme neuer Tätigkeiten nach dem Ausscheiden aus dem Dienst zu untersagen. Doch zeigt die Praxis, dass die Regelung nur in seltenen Fällen angewandt wird. Insbesondere auf der Ebene der beamteten Staatssekretär*innen sowie Abteilungsleiter*innen finden nach wie vor viele Wechsel statt, die einen Interessenkonflikt nahelegen. Ob und wie die jeweils zuständige Dienststelle Wechsel tatsächlich prüft und nach welchen Kriterien kann nicht nachvollzogen werden, da darüber keine Informationen veröffentlicht werden und die Ministerien auch auf Nachfrage keine Angaben machen. Das durch die Änderung des Ministergesetzes neu eingeführte Gremium sollte auch hier zur tätig werden und eine öffentliche Empfehlung abgeben. Zugleich sollte ein Kriterienkatalog veröffentlicht werden, an Hand dessen Wechsel geprüft werden können.
Politische Debatte
Sowohl in Deutschland als auch auf europäischer Ebene wurde in den letzten zehn Jahren über schärfere Regeln für Seitenwechsler gestritten. Im Juli 2015 verabschiedete der Bundestag ein Gesetz zur Karenzzeit. Damit hat die Debatte über nahtlose Seitenwechsel von Regierungsmitgliedern ein vorläufiges Ende gefunden. Wir zeichnen die Debatte hier genauer nach:
- Politische Debatte über Seitenwechsel in Deutschland
- Politische Debatte über Seitenwechsel auf europäischer Ebene
Nachdem 2022 im Rahmen der Veröffentlichung der "Uber Files" Details über den Wechsel der EU-Kommissarin Neelie Kroes als Lobbyistin zum Fahrdienstleister Uber bekannt geworden waren, kritisierte Corporate Europe Observatory den unzureichenden Umgang der EU-Kommission mit Seitenwechseln[3]<[4]
Weitere Artikel zum Thema Seitenwechsel
Weiterführende Informationen
- Überblick LobbyABC: Lobbyismus von A–Z
- Aktuelle Meldungen und Hintergründe zum Seitenwechsel auf der LobbyControl-Website, abgerufen am 30.04.2020
- LobbyControl-Positionspapier "Mehr Transparenz und Schranken für den Lobbyismus", Dezember 2008 (pdf), abgerufen am 30.04.2020
- LobbyControl Studie "Fliegende Wechsel - die Drehtür kreist. Was macht die Ex-Regierung Schröder II heute?", November 2007 (pdf), abgerufen am 30.04.2020
Aktuelle Informationen aus der Welt des Lobbyismus
Einzelnachweise
- ↑ Lobbyreport 2015: Schwarz-Rot mauert bei Lobbytransparenz, lobbycontrol.de vom 30.04.2020, abgerufen am 18.02.2017
- ↑ Karenzzeit: Unterschriftenübergabe und Anhörung im Bundestag, lobbycontrol.de vom 16.06.2015, zuletzt aufgerufen am 30.04.2020
- ↑ [https://www.lobbycontrol.de/wp-content/uploads/Von-Der-Leyen-Uber-letter-14-July-2022-FINAL.pdf Uber, Neelie Kroes, an the European Commission 14.07.2022, lobbycontrol.de, abgerufen am 17.07.2022
- ↑ Daten-Leak lässt Uber auffliegen, netzpolitik.org vom 11.07.2022, abgerufen am 17.07.2022