Seitenwechsel
Seitenwechsel ist ein häufiges und typisches Phänomen des Lobbyismus, auch Drehtür-Effekt (Revolving door) genannt: PolitikerInnen oder hochrangige MitarbeiterInnen aus Ministerien wechseln aus ihrem Amt oder Mandat zu Unternehmen oder Interessensverbänden und übernehmen dort Lobbytätigkeiten. Häufig werden sie in Bereichen tätig, für die sie zuvor in ihrer politischen Funktion auch zuständig waren. Sie wechseln quasi auf die andere Seite des Verhandlungstisches und sitzen nun ihrem Nachfolger gegenüber. Diese Wechsel erfolgen oft direkt nach Beendigung der politischen Funktion oder kurz darauf („fliegend“).
Inhaltsverzeichnis
Die Problematik
LobbyControl hält fliegende Seitenwechsel aus folgenden Gründen für problematisch:
- Mit den kürzlich ausgeschiedenen politischen Entscheidungsträgern sichern sich Interessengruppen deren Insider-Wissen und ihre noch frischen Kontakte in Ministerien und/oder Parlament. So erhalten sie einen privilegierten Zugang zur Politik und können Entscheidungen leichter beeinflussen.
- Dies kommt vor allem finanzstarken Akteuren zugute, die ehemaligen SpitzenpolitikerInnen attraktive Jobs anbieten können – dies sind in der Regel große Unternehmen oder Wirtschaftsverbände. Die bestehenden Machtstrukturen werden so verfestigt und verstärkt.
- Die Aussicht auf lukrative Jobs nach dem Ende der Politiker-Karriere gibt Anreiz, politische Entscheidungen zu Gunsten möglicher späterer Arbeitgeber zu treffen - oder zumindest sie nicht gegen sich aufzubringen. So wird bei Entscheidungen der Seitenblick auf die späteren Jobchancen zu einem bedeutenden Faktor.
LobbyControl hat sich in der Studie "Fliegende Wechsel - die Drehtür kreist. Was macht die Ex-Regierung Schröder II heute?", November 2007 (pdf) intensiv mit dem Phänomen auseinandergesetzt.
Beispiele für Seitenwechsel der letzten Jahre
- Dirk Niebel - Erst Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, dann Rüstungslobbyist für Rheinmetall
- Ronald Pofalla - Vom Chef des Bundeskanzleramtes zur Deutschen Bahn
- Eckart von Klaeden - Vom Staatsminister im Bundeskanzleramt zum Cheflobbyist der Daimler AG
- Daniel Bahr - Vom Gesundheitsminister zur Allianz Versicherung
- Steffen Kampeter - Vom Staatssekretär im Bundesfinanzministerium zum Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände[1]
Forderung: Nachbesserungen am Karenzzeit-Gesetz
LobbyControl tritt für eine dreijährige Karenzzeit – eine Abkühlphase – ein. Innerhalb dieser Zeit muss ein Wechsel in Lobbytätigkeiten generell, also nicht nur im Bereich der zuvor bearbeiteten Fachgebiete, verboten sein. Dabei darf dieses Verbot nicht durch den Verzicht auf Beamten- oder sonstiger Rentenbezüge zu umgehen sein. Die Abkühlphase sollte für die Kanzlerin, die Minister, Staatsminister, parlamentarische und beamtete Staatssekretäre sowie Abteilungsleiter gelten.
Das im Juli 2015 verabeschiedete Karenzzeit-Gesetz sieht dagegen nur ein 12 bzw. 18 monatiges Verbot für Minister und Staatssekretäre vor. Das eng auf die früheren Tätigkeitsbereiche beschränkte Verbot verkennt das Ausmaß der Problematik. Denn es geht nicht nur um direkte Vorteilsgewährung während der politischen Amtszeit, die nach deren Ende mit einem lukrativen Job belohnt werden. Mindestens ebenso bedeutend ist der privilegierte Zugang zu Entscheidungsträgern und Insiderwissen, über die frisch ausgeschiedene Minister oder Staatssekretäre auch in Bereichen verfügen, in denen sie nicht unmittelbar tätig waren. Daher kann nur eine verpflichtende und umfassende Regulierung die Verfestigung und Vertiefung der privilegierten Position von ökonomisch potenten Interessengruppen und Unternehmen bremsen. Frühestens nach drei Jahren dürften die aus fachlichen und geschäftlichen Gründen entwickelten persönlichen Kontakte ausreichend abgeschwächt sein, weil Manager und Amtsträger sich in dieser Zeit anderen und neuen Personen zuwenden müssen.
Lobbycontrol fordert außerdem, dass Karenzzeit-Gesetz um wirksame Sanktionen ergänzt wird. Auch fehle die Regel, dass eine neue Tätigkeiten erst nach einer Entscheidung über eine Karenzzeit begonnen werden dürfen.[2].
Politische Debatte
Sowohl in Deutschland als auch auf europäischer Ebene wurde in den letzten zehn Jahren über schärfere Regeln für Seitenwechsler gestritten. Im Juli 2015 verabschiedete der Bundestag ein Gesetz zu Karenzzeit. Damit hat die Debatte über nahtlose Seitenwechsel von Regierungsmitgliedern ein vorläufiges Ende gefunden. Wir zeichnen die Debatte hier genauer nach:
- Politische Debatte über Seitenwechsel in Deutschland
- Politische Debatte über Seitenwechsel auf europäischer Ebene
Besondere Formen
Neben dem Wechsel von Politikern in die Wirtschaft gibt es auch die umgekehrte Bewegung: Lobbyisten wechseln aus Unternehmen in wichtige Entscheidungspositionen in Ministerien. So wurde der Atom-Lobbyist Gerald Hennenhöfer, der unter anderem für den Atomkoonzern Viag (heute E.ON) tätig war, 2009 oberster Atom-Aufseher und Deutschland und 2013 Vorsitzender der europäischen Atomaufsichtsbehörden[3]. Der stellvertretende Chef des Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV), Christian Weber, wurde 2010 Abteilungsleiter für Grundsatzfragen im Gesundheitsministerium.[4] Unter Rot-Grün wechselte 1999 Heribert Zitzelsberger, langjähriger Chef der Steuerabteilung des Chemie-Riesen Bayer AG, als Staatssekretär ins Finanzministerium. Er gilt als einer der Väter der rot-grünen Unternehmenssteuerreform, die mit der Senkung der Körperschaftsteuer und der Steuerbefreiung für Kapitalgesellschaften beim Verkauf von Beteiligungen Großunternehmen „das größte Geschenk aller Zeiten“ machte.[5] Im Jahr 2001 wurden der Bayer AG 250 Millionen Euro Körperschaftssteuer erstattet.[6]
Dass Seitenwechsel nicht nur Politiker betreffen, zeigt der Wechsel von Norbert Hansen: Als Vorsitzender der Bahn-Gewerkschaft Transnet verhandelte er im Namen der Belegschaft über Lohnerhöhungen und Entlassungen. 2008 wechselte er in den Bahn-Vorstand - als Personalchef.[7]
Bei einigen Politikern wie z.B. Friedrich Merz mischen sich zudem Nebentätigkeiten während des politischen Amts mit Seitenwechseln danach[8]. Manchmal kann man sich fragen, ob dabei Lobbyisten in politische Ämter gewählt wurden oder Politiker nebenberuflich als Lobbyisten agieren.
Übersicht
Weiterführende Links
Aktuelle Informationen aus der Welt des Lobbyismus
Einzelnachweise
- ↑ Kampeter wird neuer Arbeitgeber-Cheflobbyist, LobbyControl, 10.Juni 2015, zuletzt aufgerufen am 15.7.2015
- ↑ https://www.lobbycontrol.de/2015/06/karenzzeit-unterschriftenuebergabe-und-anhoerung-im-bundestag/Karenzzeit: Unterschriftenübergabe und Anhörung im Bundestag], Deutscher Bundestag, 16.Juni 2015, zuletzt aufgerufen am 15.7.2015
- ↑ Den Bock zum Gärtner gemacht Frankfurter Rundschau vom 1. Dezember 2009
- ↑ PKV-Lobbyist soll Gesundheitsreform erarbeiten FAZ vom 11. Januar 2010
- ↑ Das größte Geschenk aller Zeiten Die Zeit vom 8. September 2005
- ↑ Kein Gewinn im Sinne des Steuerrechts Coordination gegen Bayer Gefahren 02/2002
- ↑ Bahn-Gewerkschafter werfen Überläufer Hansen Verrat vor Spiegel-Online vom 16.05.2008, abgerufen am 08.10.2010]
- ↑ Merz tritt als RAG-Anwalt auf, KStA.de, 04. April 2006, abgerufen am 28. April 2010